Menschen mit Demenz: Was jede Phase braucht
Menschen mit Demenz haben dieselben Bedürfnisse wie alle anderen, können sie aber oft nicht klar äußern. Statt über Worte zeigen sie durch ihr Verhalten, was sie brauchen. Um gut mit ihnen in Kontakt zu treten, ist es wichtig, ihre individuelle Ausdrucksweise zu verstehen. Dabei helfen die vier Phasen des Ich-Erlebens nach Dr. Cora van der Kooij.
✅ Die Phase des bedrohten Ich-Erlebens
In der frühen Phase der Demenz nehmen sich Betroffene noch als eigenständige Person wahr, spüren aber zunehmend Kontrollverluste, z. B. durch Vergesslichkeit oder Unsicherheiten im Alltag. Dies löst oft Angst, Wut oder Hilflosigkeit aus, die jedoch meist versteckt bleiben. Ihr Ziel ist es, unauffällig weiter am normalen Leben teilzuhaben. Dabei setzen sie viel Energie ein, um Defizite zu verbergen und die Fassade aufrechtzuerhalten.
Beispiel:
Frau Bergmann ist 82 Jahre alt und lebt allein in ihrem großen Haus. Ihr Sohn merkt, dass sie immer mehr vergisst und Absprachen nicht einhalten kann. Sie stellt in der letzten Zeit auch immer wieder dieselben Fragen und schließlich geht er mit ihr zum Arzt. Eine beginnende Demenz wird diagnostiziert, Frau Bergmann und ihr Sohn werden darüber aufgeklärt. Herr Bergmann möchte seiner Mutter nun so viel Unterstützung wie möglich zukommen lassen (Putzhilfe, Essen auf Rädern, einen Besuch pro Woche zur Unterhaltung), aber Frau Bergmann lehnt jegliche Hilfe ab. Aus ihrer Sicht ist sie lediglich dem Alter entsprechend vergesslich und kann sehr gut für sich selbst sorgen. Über die vom Arzt gestellte Diagnose Demenz wird nicht gesprochen.
👉 Bedürfnisse, Umgang und Kontakt
Menschen in der frühen Demenzphase haben ein starkes Bedürfnis nach Autonomie. Unterstützung sollte daher möglichst unauffällig, mit Taktgefühl und durch Wahlmöglichkeiten erfolgen, also: „mit den Händen auf dem Rücken“. Vertraute Routinen, feste Strukturen und bekannte Plätze geben zusätzlich Halt.
Auch wenn Betroffene manchmal abweisend wirken, ist es wichtig, dies nicht persönlich zu nehmen. Ein einfühlsamer, authentischer Kontakt hilft, die dahinterliegenden Gefühle wie Angst oder Scham zu erkennen und Bedürfnisse wie Sicherheit oder Selbstwert zu erfüllen. Vertrauen entsteht, wenn Nähe respektvoll und ehrlich gestaltet wird.
✅ Die Phase des verirrten Ich-Erlebens
In dieser Phase verschwimmen für Menschen mit Demenz zunehmend Realität und Erinnerung. Erlebnisse, Personen und Gefühle aus Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, was zu innerer Verwirrung führt, z. B. wenn jemand seine Mutter sucht oder nach Hause möchte (obwohl er zu Hause ist). Gegenstände werden nicht mehr erkannt, Orientierung geht verloren, Sprache wird unzusammenhängender. Dennoch bleibt die emotionale Ausdruckskraft erhalten. Für den Kontakt wird daher das Wie wichtiger als das Was. Vertraute Menschen geben Sicherheit und helfen, emotionale Signale richtig zu deuten.
Beispiel:
Herr Schäfer lebt noch mit seiner Ehefrau im eigenen Haus. Er ist 81 Jahre alt, war früher in der Erwachsenenbildung tätig und ist immer noch sehr eloquent. Er legt großen Wert auf gute Kleidung und auf Ordnung um ihn herum. Seine Frau ist eine wichtige Bezugsperson für ihn. An Gesprächen ist er rege beteiligt und kommentiert oft mit: „ach so, da muss ich mal drüber nachdenken“, „ja, das wollte ich auch so sagen“, „ja stimmt, so muss es sein“, oder „das weiß ich auch nicht genau“. Er ist dabei sehr lebendig und beteiligt und hat offensichtlich große Freude an der Unterhaltung. Seine Frau bittet ihn, den Kalender aus der Küche zu holen, damit sie einen Termin eintragen kann. Herr Schäfer bringt ihr das Kochbuch. Frau Schäfer bittet ihn nochmal und erklärt genau, dass der Kalender in der Küche auf dem Esstisch liegt. Herr Schäfer kommt mit der Post zurück.
Es ist deutlich zu sehen, dass das Wort ‚Kalender‘ für Herrn Schäfer keine Bedeutung mehr hat, die Unterhaltung mit anderen Menschen ihm aber z. B. das Bedürfnis von Bedeutsamkeit, Gemeinschaft, Unterhaltung, Zugehörigkeit vermitteln und er dabei Freude erleben kann.
👉 Bedürfnisse, Umgang und Kontakt
Im verirrten Ich-Erleben zählen Gefühle mehr als Fakten. Der Umgang erfordert Empathie, Akzeptanz und Fingerspitzengefühl. Unterstützung sollte so erfolgen, dass Scham oder Versagensängste vermieden werden, z. B. durch unaufdringliche Hilfen oder kleine Impulse zur Erinnerung.
Widerspruch oder Korrekturen führen oft zu Rückzug oder Abwehr. Besser ist es, die individuelle Wirklichkeit anzunehmen und emotional mitzuschwingen. Struktur, Rituale, vertraute Menschen und Gegenstände geben Sicherheit. Die Lebensgeschichte hilft dabei, auf Bedürfnisse wie Nähe, Orientierung, Sinn oder Selbstwert einzugehen.
Im Bespiel von Herrn Schäfer wäre es sinnvoll, ihm den benötigten Kalender in die Hand zu geben. Eine unterstützende Herangehensweise kann aber auch sein, dem Gedächtnis mit bestimmten Erlebnissen ein wenig auf die Sprünge zu helfen, so dass die Erinnerung vielleicht an der einen oder anderen Stelle wiederaufkommt.
✅ Die Phase des verborgenen Ich-Erlebens
In dieser fortgeschrittenen Demenzphase wirken Betroffene oft in sich gekehrt, passiv oder regressiv, als lebten sie in einer eigenen, inneren Welt. Reaktionen auf die Außenwelt sind selten, Bewegungen erscheinen ziellos, Sprache nimmt ab, Wiederholungen (z. B. Rufen oder Wischen) treten auf.
Trotzdem drücken sie über ihr Verhalten Bedürfnisse und Gefühle aus, die erkannt und einfühlsam beantwortet werden sollten. Auch wenn die eigene Identität verblasst, kann durch vorsichtige Kontaktaufnahme Begegnung entstehen, vorausgesetzt, die Initiative geht von außen aus und erfolgt mit Geduld und Aufmerksamkeit.
Beispiel:
Frau Kaiser ist 87 Jahre alt und lebt noch zu Hause. Sie sitzt oft still auf ihrem Platz im Wohnzimmer und schaut ziellos in den Raum. Auf Menschen, die kommen oder gehen reagiert sie nicht. Manchmal steht sie auf und geht in der Wohnung spazieren und auch dabei macht sie den Eindruck, ins Leere zu schauen. Beim Mittagessen sitzt sie am Tisch und ihr Ehemann setzt sich neben sie, legt ihr die Hand auf den Unterarm und spricht sie mit ihrem Namen an. In diesem Moment nimmt Frau Kaiser Blickkontakt zu ihm auf. Herr Kaiser erzählt ihr, was es zum Essen gibt und führt das Gespräch weiter über die Vorlieben von Frau Kaiser beim Essen. Teilweise wird das Essen von ihm angereicht, teilweise nimmt Frau Kaiser selbst das Besteck und isst alleine. Die Mahlzeit schmeckt ihr offensichtlich und im Kontakt mit dem Ehemann strahlt sie Freude aus.
👉 Bedürfnisse, Umgang und Kontakt
Menschen im verborgenen Ich-Erleben sind auf andere angewiesen und Kontakt muss von außen initiiert und auf individuelle Bedürfnisse abgestimmt werden. Diese lassen sich aus der Lebensgeschichte und aktuellen Signalen ableiten.
Wichtige Bedürfnisse wie Nähe, Geborgenheit, Bestätigung und Zugehörigkeit können z. B. durch gemeinsames Essen, Körperkontakt oder vertraute Rituale erfüllt werden. Auch wenn aktive Teilnahme oft nicht mehr möglich ist, erleben viele Betroffene Freude an Musik, Humor, Bewegung und Gemeinschaft und reagieren positiv auf liebevolle Zuwendung.
Im Beispiel von Frau Kaiser ist es möglich, dass sie teilweise selbständig isst. Dadurch erlebt sie Selbstwert und Bestätigung und durch den Körperkontakt mit ihrem Ehemann Nähe und Geborgenheit. Die Gemeinschaft beim Mittagessen erfüllt das Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
✅ Die Phase des versunkenen Ich-Erlebens
In dieser letzten Demenzphase wirken Betroffene stark zurückgezogen, reagieren kaum noch auf ihre Umgebung und zeigen wenig oder keine Gefühlsäußerungen. Sie sind vollständig auf Pflege angewiesen, meist bettlägerig oder sitzend mit starrer Haltung.
Trotzdem wird angenommen, dass sie Gefühle wahrnehmen, spürbar etwa durch kleine Reaktionen wie Entspannung, Anspannung, Lächeln oder Augenbewegungen. Auch wenn keine sichtbare Kommunikation mehr möglich ist, bleibt ein feinfühliger, achtsamer Kontakt bedeutsam.
Beispiel:
Herr Hubert ist 85 Jahre alt, lebt zu Hause und kann schon seit drei Jahren das Bett nicht mehr verlassen. Er ist in der Phase des versunkenen Ich-Erlebens und wird liebevoll von seiner Frau und seiner Tochter umsorgt. Einmal in der Woche bekommt er von einer ehrenamtlichen Helferin Besuch. Sie liest ihm Geschichten vor, die er früher gerne gelesen hat und sie hat immer ein Massageöl dabei, mit dem sie seine Hände massiert, um ihn ein bisschen zu verwöhnen. Manchmal hören die beiden seine Lieblingsmusik. Oft schläft er, wenn sie da ist, aber an manchen Tagen öffnet er seine Augen und schaut sie an. Manchmal brummt er leise und wird dabei ganz ruhig. Auch wenn es schwer zu beschreiben ist, kann man deutlich erkennen, dass Herr Hubert diese Momente bewusst erlebt und genießt.
👉 Bedürfnisse, Umgang und Kontakt
Im versunkenen Ich-Erleben reagieren Menschen vor allem auf körperliche und sinnliche Reize. Gelungene Kontaktmomente zeigen sich oft durch Entspannung und Ruhe. Daher sind achtsame Beobachtung und gezielte Reize wie Berührungen, Streicheln, Schaukeln oder Massagen besonders wichtig. Bedürfnisse wie Nähe, Sicherheit und Gemeinschaft können so erfüllt werden. Auch ruhige Orte z. B. im Garten bieten sinnliche Eindrücke, die Kontakt und Wohlbefinden fördern.
➡️ Mein Tipp: Informieren Sie sich gut über das Thema, bleiben Sie geduldig und überfordern Sie die Menschen mit Demenz nicht. Es ist nicht schlimm, wenn mal etwas nicht klappt, im nächsten Kontakt kann es wieder besser sein.
Hier ein Beispiel einer Alltagssituation: YouTube
Mehr Infos zum Thema Umgang und Kommunikation Demenz erhalten Sie bei der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V.
Elke Strauß
Seit vielen Jahren begleite ich als Trainerin, Coach und Moderatorin Menschen in herausfordernden Arbeits- und Lebenssituationen. Mein Schwerpunkt liegt auf den Themen Pflege, Demenz, Unterstützung von Angehörigen sowie Coaching und der Entwicklung von Teams und Führungskräften.
Mein Anliegen ist es, wertvolle Impulse, praktische Tipps und inspirierende Gedanken mitzugeben – für mehr Orientierung, Entlastung und neue Perspektiven im Alltag.
Elke Strauß
Dipl. Pflegewirtin, Krankenschwester, Trainerin, Coach und Moderatorin
Mehr Infos: www.elke-strauss.de