Erster Zug – erster Kuss
Kleiner Nachruf auf die Wilhelmstraße in Rodenkirchen und die Tage, als der Zug am Karnevalssonntag durch die enge Straße zog
Wir haben es im letzten Monat schon im Bilderbogen bekannt gegeben: der Rodenkirchener Karnevalszug geht nicht mehr durch die Wilhelmstraße! Die Interessengemeinschaft für diesen Zug sieht sich nicht mehr in der Lage, mit den großen Festwagen in die engste aller Rodenkirchener Straße einerseits hinein- und am anderen Ende wieder herauszukommen, zumal das Eckgrundstück an der Einfahrt nach rechts in die Frankstraße in den letzten Jahren bebaut worden ist. Stattdessen geht der Zug eine Ecke weiter und nimmt dann den Weg über die Brückenstraße Richtung Norden, um von da aus in die Frankstraße, dann weiter in die Rodenkirchener Hauptstraße wieder bis zum Kreisel und der dortigen Auflösung zu ziehen.
So schade es ist, dass der Zug nicht mehr durch diese Straße zieht, wo man vom Wagen aus der Frau im ersten Stock ein Strüsje in die Hand drücken konnte oder auch mal ein Kölsch gereicht bekam: das Ganze muss man natürlich auch unter den „Sicherheitsbedingungen“ für so einen Karnevalszug sehen. Wenn ich manchmal an der Wagenkante herunter schaute und dort, wo es ja eigentlich keinen Bürgersteig gibt, sich arglose Pänz oder gar unvorsichtige Erwachsene auf der Jagd nach „Kamelle“ herumtrieben, darf man heute noch froh sein, dass in all den Jahren nichts passiert ist. Deshalb ist die Entscheidung der Interessengemeinschaft Karnevalszug absolut richtig!
Nach dem Zug auf die Piste
Natürlich ist es andererseits schade. Ich hatte ja selbst fast drei Jahrzehnte das Privileg, dort am Zugweg eine Dependance zu haben. Das Bilderbogen-Büro war dort, und in den Anfangszeiten waren die eigenen Kinder und die der Verwandtschaft noch klein, konnten sich die Zeit im geschlossenen Innenhof vertreiben, die Toilette nutzen usw. Kam der Zug, alle auf die Straße und Süßigkeiten gesammelt. Zug vorbei: Kinder nach Hause, kurz aufgeräumt, und dann ab auf die Piste.
Aber die Kinder werden größer, haben eigene Interessen, bleiben schließlich weg. Dann kam auch die Zeit, wo ich als „Kamellejung“ für den Gewinner unseres Weihnachtspreisrätsels mitfuhr, ihr oder ihm das Wurfmaterial „müngkchensmoß“ in die dafür gedachten Ablagen auf dem Wagen legte und ein möglichst freundliches Gesicht machte.
Danach: auch ab auf die Piste, meist mit den Leuten, die mit auf dem Wagen gefahren sind, die Gewinnerin oder den Gewinner im Schlepptau. Oft ging es in die Wilhelmstraße in die Kultkneipe „Hinger d`r Heck“, wo es nach dem „Zoch“ nicht nur ein leckeres Kölsch, sondern auch was Vernünftiges zu beißen gab. Wer hier noch einmal einkehren möchte, sollte das Jahr nutzen: Anne de Waal, die Betreiberin und gute Seele vom HDH, geht Ende 2023 „in Rente“.
Aber in der Wilhelmstraße war am Karnevalssonntag in vielen Garagen, Höfen und Wohnungen immer was los. Viele alte Fußballer des TSV Rodenkirchen wohnten oder wohnen hier, die Gebrüder Hamacher, die Hammersteins, Tobjinskis und Wellershausens, dazu noch andere alte Rodenkirchener: überall stand ein Fässchen Kölsch, Frikadellen und Mett gehören zum Karneval wie Kamelle und Strüsjer. Manche Gastgeber zeigten sich an so einem Tag von ihrer allerbesten Seite, und so gab es denn manchmal nicht nur Mett von Annett, sondern auch Sushi von Uschi.
Das ist jetzt vorbei. Natürlich wird in der Wilhelmstraße weiter gefeiert. Auch am Karnevalssonntag. Aber leider ohne Zug. Ich sehe noch die entsetzte Großmutter aus der Wilhelmstraße vor mir, die sagte: „Herr Thielen, meine Enkel haben gesagt, sie kommen Karneval nicht mehr zu Besuch, wenn der Zug nicht mehr durch die Wilhelmstraße geht!“ Da muss sich die gute Frau wohl was anderes einfallen lassen.
Etwas einfallen lassen hat sich auch die Zugleitung des Rodenkirchener Zuges. Nachdem man vor der Pandemie mal den Versuch gemacht hat, den Zugweg umzukehren und von der Autobahnbrücke nach Süden zu ziehen, hat man wohl die Einsicht gewonnen, dass das Althergebrachte doch die bessere Idee war. Ein altes Mitglied der „Großen Rodenkirchener Karnevals-Gesellschaft“, die den Zug ja bis vor wenigen Jahren selbst organisiert hatte, drückte es so aus: „Ich bin mi Levve lang mit dem Zoch in et Dorf gelaufe. Da weed ich doch op ming ahl Dag nit us dem Dorf erus laufe!“
Fazit: Der Zug am Karnevalssonntag geht wieder richtig rum, und die Entscheidung, nicht mehr durch die Wilhelmstraße zu gehen, ist vernünftig.
Erster Zug – erster Kuss
Zum Schluss erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte von meinem ersten Zug, denn da spielt die Wilhelmstraße eine große Rolle. Ich war so dreizehn oder vierzehn Jahre alt, und wir sind als die Meßdiener von St. Maternus mitgegangen. Das war noch zu einer Zeit, als zu einer Pfarrei wie St. Maternus nicht nur ein eigener Pastor, sondern auch ein eigener Kaplan gehörte, und wo an hohen Feiertagen mindestens 30 Ministranten im Einsatz waren. Die Kollegen meines Jahrganges und ich waren noch nicht an dem Punkt angelangt, „dass das Leben mehr bereit hält als Karl May un Messwing en d`r Sakristei“, wie es die „Bläck Fööss“ in dem Lied „Wenn et Leech usjing em Roxy“ so treffend besingen. Jedenfalls kam ziemlich am Ende der Wilhelmstraße eine junge Frau auf mich zu, nahm mich in den Arm und küsste mich so intensiv, wie mich vorher noch niemand geküsst hatte. Ich kam gar nicht auf die Idee, mich zu wehren, und es war ja auch nicht so, dass mir das missfiel. Nach einiger Zeit ließ sie mich los, strahlte mich an. Ich bin wahrscheinlich knallrot angelaufen und habe geschaut, ob das jemand gesehen hat. Das war offensichtlich nicht der Fall, und ich lief weiter, zunächst mal wie in Trance. Selbst als ich später an „meiner“ Maternuskirche vorbeikam, war mir noch schwindelig. Ich habe auch nichts mehr geworfen, nur noch den Jecken am Rand zugewunken, und habe den Rest des Wurfmaterials mit nach Hause genommen. Helmut Thielen.