Bitte nicht anfassen: Wildtierkinder brauchen oft keine Hilfe!
VIER-PFOTEN-Expertin erklärt, weshalb Abstand Leben retten kann
Die Frühlingsmonate sind für heimische Wildtiere eine kritische Zeit, denn viele von ihnen bringen ihren Nachwuchs zur Welt. Bei mildem Wetter sind Spaziergänge durch Wiesen und Wälder besonders beliebt, und aufmerksame Naturbegeisterte können jetzt jungen Wildtieren begegnen. Wer Tiere beobachtet oder scheinbar verlassene Jungtiere findet, sollte umsichtig handeln. Eva Lindenschmidt, Diplom-Biologin und Wildtierexpertin der VIER PFOTEN Wildtierstation TIERART, erklärt, wie man sich richtig verhält – und wann tatsächlich Hilfe erforderlich ist.
Nicht jedes verlassene Jungtier ist in Not
„Gerade im Frühjahr ist die Versuchung groß, einem allein wirkenden Jungtier zu helfen, aber nicht jedes Tier ist wirklich in Not“, sagt Eva Lindenschmidt. „Viele Wildtiermütter, wie etwa die der Feldhasen oder Rehe, lassen ihre Jungen tagsüber unbeaufsichtigt, um Fressfeinde nicht durch ihren Eigengeruch anzulocken. Sie kommen nur für eine kurze Zeit zum Säugen zurück. Die Jungtiere verharren still im hohen Gras – ein Schutzmechanismus, der oft missverstanden wird“, erklärt die Expertin. „In solchen Situationen ist es wichtig, Abstand zu halten und den Fundort rasch zu verlassen, damit die Mutter zurückkehren kann.“
Meist sind die Elterntiere in der Nähe
Rehkitze, die im Mai und Juni geboren werden, sind besonders gefährdet. In den ersten Tagen nach der Geburt haben sie keinen Eigengeruch, sodass es für Feinde schwierig ist, sie zu finden. Eva Lindenschmidt warnt: „Immer wieder kommen Spaziergängerinnen und Spaziergänger mit scheinbar hilflosen Kitzen zu uns. Diese brauchen jedoch keine Hilfe. In der Regel hält sich das Muttertier in der Nähe auf, kehrt aber nicht zurück, solange sich Menschen oder Hunde in der Umgebung aufhalten. Auch in diesem Fall ist es wichtig, Abstand zu wahren, aufmerksam zu sein und im Zweifelsfall Fachleute zurate zu ziehen.“
Auch bei scheinbar hilflosen Jungvögeln ist Zurückhaltung entscheidend. Zahlreiche sogenannte Ästlinge – das sind junge Vögel, die das Nest bereits verlassen haben, aber noch nicht fliegen können – werden weiterhin von ihren Eltern versorgt. „Sie sitzen oft am Boden unter Sträuchern und warten auf Futter“, erklärt die Biologin. „Wer sie einsammelt, trennt sie möglicherweise für immer von ihren Eltern. Nur bei offensichtlichen Verletzungen oder wenn eine akute Gefahr besteht, etwa durch den Straßenverkehr, darf ein Jungvogel vorsichtig umgesetzt und von Fachleuten begutachtet werden.“
Hunde bitte an der Leine führen
Freilaufende Hunde stellen eine große Gefahr für Wildtiere dar. „Jedes Jahr erleiden unzählige Rehkitze und andere Jungtiere Verletzungen oder werden sogar getötet, weil sie von nicht angeleinten Hunden angegriffen werden“, betont Eva Lindenschmidt. „Während der Brut- und Setzzeit, also im Frühjahr und Sommer, sollten Hunde grundsätzlich an der Leine und ausschließlich auf den Wegen geführt werden. Das schützt nicht nur die Wildtiere, sondern verhindert auch unangenehme Situationen für Halterinnen und Halter.“
Im Zweifel sollte man Hilfe suchen
Wer ein verletztes oder tatsächlich verwaistes Tier findet, sollte nicht vorschnell handeln. „Falsch verstandene Tierliebe kann mehr Schaden anrichten als Nutzen“, so die Expertin. „Kontaktieren Sie Wildtierstationen, Naturschutzvereine, Förster, Jäger oder die Polizei, bevor Sie das Tier anfassen. Denn menschliche Berührungen bedeuten für Wildtiere enormen Stress. Zudem können insbesondere verletzte oder sehr gestresste Wildtiere äußerst wehrhaft sein. Sie sollten ausschließlich von Expertinnen und Experten behandelt werden, falls eine Aufnahme notwendig ist.“
TIERART Wildtierstation
Die TIERART Wildtierstation beherbergt und pflegt zahlreiche heimische Wildtiere wie Füchse, Dachse, Wildkatzen, Waschbären, Hasen oder Igel. Manche Schützlinge sind nur vorübergehende Gäste. Nachdem sie medizinisch versorgt wurden und wieder genesen sind, werden sie zurück in die Wildnis entlassen. Tiere, die nicht wieder in die freie Natur ausgewildert werden können, finden hier ein dauerhaftes, artgemäßes Zuhause.
Die TIERART Wildtierstation von VIER PFOTEN gibt auch Großkatzen, die unter mangelhaften Bedingungen in Zoos, Zirkussen oder in privater Gefangenschaft gehalten wurden, eine neue, artgemäße Heimat. Seit 2017 betreibt die TIERART Wildtierstation in Zusammenarbeit mit dem EU-LIFE-LUCHS-Projekt eine Auffangstation für Luchse. 2021 eröffnete auf dem Gelände der Wildtierstation die deutschlandweit erste Auffangstation für Luchswaisen. Hier werden verletzte oder verwaiste Luchse aus dem Wiederansiedlungsprogramm aufgenommen, gepflegt und anschließend in Maßweiler (Rheinland-Pfalz) ausgewildert.
Foto: VIER PFOTEN