Zwischen Greenscreen und Livestream

Köln ging voran: Deutschlandweit erstes Kulturfestival seit dem Lockdown zieht Bilanz

Dass es die 19. Ausgabe von Sommerblut überhaupt geben würde, stand lange in Frage. Doch das Fazit kann sich sehen lassen: Immerhin 19 der ursprünglich 35 geplanten Produktionen wurden umgesetzt, wenn auch in weitgehend digitaler Form. Am Ende können die Festivalmacher auf 38 gestreamte Events verweisen, allesamt aus dem eigens aufgebauten TV-Studio in der Tanzfaktur übertragen. Dafür werkelten ein Dutzend Techniker im Hintergrund, hunderte Meter Kabel wurden verlegt. “Und am Ende hat es Zoom gemacht”, bringt Festivalleiter Rolf Emmerich die neue Erfahrung auf den Punkt.

Während draußen auf der Straße Menschen gegen den Lockdown demonstrierten, nutzten Emmerich und sein Team den Lockdown, um sich neu zu erfinden: “Aufgeben kam für uns nicht in Frage!” Aus einem Theaterstück im Labyrinth wurde ein Hörspiel, aus Physical Theatre ein Kurzfilm, aus einem Bühnenereignis eine lebendige dokumentarische Website, aus einem Stück auf engstem Raum ein Audiowalk unter freiem Himmel und aus einem Besuch im Altersheim eine interaktive Videokonferenz. “Wir haben die Herausforderung angenommen und all unsere Kreativität eingesetzt”, um den Kölnerinnen und Kölnern in dieser schweren Zeit zumindest etwas Kultur zu bieten”, zeigt sich auch die Künstlerische Leiterin, Anna-Mareen Henke ein wenig stolz.

Viel Zeit blieb dem Sommerblut-Team dafür nicht und an vielen Stellen konzentrierte man sich aufs Machbare. “Wir mussten uns von unseren Idealvorstellungen trennen, alte Gewohnheiten aufgeben und völlig neu denken”, so Co-Festivalleiter Felix Dornseifer. Erstaunlich viel habe trotzdem funktioniert, trotz des technischen Neulands, das man betreten musste. Bei zwei Streams jedoch gab es so große technische Probleme, dass sie jetzt nach dem Festival nachgeholt werden. “Wir haben viel dazu gelernt”, so Dornseifer, “und unser diesjähriges Schwerpunkt-Thema ‘Zukunft’ war plötzlich die reale Gegenwart”.

Das inklusive Kulturfestival musste auch in Punkto Barrierefreiheit umdenken. Was bedeutet dieser Begriff im virtuellen Raum? Wie kann man eine Gebärdensprachdolmetscherin permanent einblenden? Braucht man ein Passwort, um Störenfriede abzuhalten oder hält das bereits Menschen von der Teilnahme ab? Was ist mit Audiodeskription oder Untertiteln in den diversen Video-Streaming-Lösungen? Mechthild Kreuser, Inklusionsbeauftragte von Sommerblut, war plötzlich weniger mit physischen Barrieren beschäftigt als mit digitalen Hürden.

Der Gesundheitsschutz für alle Beteiligten stand dabei stets im Vordergrund. Insbesondere bei “Der mensch von Morgen” von Regisseur Gregor Leschig, wo chronisch Kranke die tragende Säule waren. Ebenso wie bei Damengedeck 2.0 einem virtuellen Rundgang in die Zukunft, mit 70-90-jährigen Frauen in der (Senioren-)Residenz am Dom. Und auch am Sommerblut-Team selbst ging das Coronavirus nicht spurlos vorbei, ein Mitarbeiter der einer Risikogruppe angehört, ist seit mittlerweile 9 Wochen in kompletter Heimisolation und dennoch engagiert dabei. Mangelnde Resilienz kann man dem Sommerblut-Team gewiss nicht vorwerfen.
Nach dem Motto “Kein Millimeter nach rechts, kein Fußbreit dem Virus”, gab sich Sommerblut auch 2020 betont gesellschaftskritisch und politisch. In „Furcht und Normalität in Zeiten der AFD“ wurde das Erstarken von Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien aufgegriffen, einen feministischen Ansatz bot “We are here to stay!” und bei “Touchdown 21 mini” wurde darüber nachgedacht, wie die Zukunft für Menschen mit Behinderung aussehen wird.

In der großen Abschlussrunde kam unter anderem anderem der Zukunftsforscher Karl-Heinz Land mit seinen digitalen Utopien zu Wort. Der rollstuhlfahrende Schauspieler Jan Dziobek wünschte sich eine Zukunft, in der Inklusion die Regel und nicht die Ausnahme sei. Allgemeiner Wunsch der Diskutant*innen: Eine Welt in der Menschen, die von der Norm abweichen, akzeptiert sind und in der gesellschaftlicher Zusammenhalt groß geschrieben wird.

Auch die zwei OB-Kandidaten Thor Zimmermann (Wählergruppe GUT) und Andreas Kossiski (SPD) konnten ihre Vision des Kölns von Morgen und Übermorgen präsentieren. Ob diese aber wahr wird, das entscheiden die Wählerinnen und Wähler, dazu will Sommerblut auch keine Empfehlung abgeben. “Wir sind parteipolitisch neutral und hoffen, dass egal wer nach dem 13. September in Köln regiert, das inklusive Sommerblut Festival und andere Projekte der freien Kulturszene weiter fördert”, so Emmerich. Denn wenn 800 Millionen für eine Opernsanierung vorhanden sind, dann dürften ausreichende Mittel für die freie Szene inklusive Sommerblut kein Problem sein. Und einen Zukunftswunsch hatte dann auch Festivalleiter Rolf Emmerich noch: “Dass wir zu unserem 20. Jubiläum nächstes Jahr wieder im Real Life spielen, mit Zuschauern, mit physischem Kontakt und viel Applaus!” Widerspruch war da nirgendwo zu hören.